Brief an meinen grossen Bruder

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Die Bindung zwischen Geschwistern ist die dauerhafteste – und häufig auch die wichtigste im Leben. Doch gibt bestimmte Geschwisterkonstellationen, die besonders „erfolgversprechend“ sind? Die Geschwisterforschung geht dieser Frage wissenschaftlich nach. Mein Ansatz ist rein subjektiv – denn für mich toppt ganz klar folgende Kombination: grosser Bruder, kleine Schwester.

 

Lieber grosser Bruder,

bei der Recherche danach, welche Geschwisterkonstellation von der Wissenschaft als besonders einträchtig angesehen wird, stiess ich in einem Interview mit dem Entwicklungspsychologen und Familienforscher Hartmut Kasten auf folgende Aussage: Das Verhältnis unter gemischtgeschlechtlichen Geschwistern sei meist entspannter, da sie oft verschiedene Interessen und Vorbilder haben und sich dadurch weniger in die Quere kommen. Am harmonischsten funktioniere dabei Kastens Erfahrung nach die Kombination „grosser Bruder, kleine Schwester“ mit drei bis vier Jahren Altersunterschied.

„Bingo“, dachte ich mir, das habe ich doch sowieso schon immer gesagt. Aber, fragte ich mich daraufhin, was macht denn eigentlich genau diese Geschwisterbeziehung so einzigartig? Und da fiel mir so einiges ein… Heraus kamen sieben Dinge, die nur kleine Schwestern von grossen Brüdern nachvollziehen können:

1. „Das sag‘ ich meinem grossen Bruder“

Wenn es darum ging, sich auf dem Pausenhof, Spielplatz oder gegenüber älteren Nachbarskindern behaupten zu müssen, gab es meist nur eine Lösung. Das war seit ich denken konnte ein einziger, immer gleichbleibender Satz. Er lautete: „Das sag ich meinem grossen Bruder!“ Ein durchschlagendes Argument. Obwohl ich mich nicht erinnere, dass du jemals tatsächlich aktiv zur Rettung eilen musstest – der Satz allein fühlte sich an wie ein unsichtbares Schutzschild.

2. In den Kumpel des grossen Bruders verliebt sein

Das Trauma, das wahrscheinlich alle kleinen Schwestern von grossen Brüdern bis heute mit sich herumtragen: Auf den Kumpel des Bruders stehen und rein GAR keine Beachtung geschenkt bekommen! Einmal bin ich bei dem Versuch, möglichst lässig grüssend an der ultracoolen Truppe deiner Freunde auf der Schultreppe vorbei zu schlendern vor lauter Aufregung die Treppe hochgefallen – nur, um natürlich von dem „Mann“ (15 Jahre) meiner Träume mit einem spöttischen Grinsen hoch geholfen zu bekommen. Sowas sitzt tief.

P.S. Und das schlimmste ist: Die anbetungswürdigen Freunde der grossen Brüder werden nie etwas anderes in einem sehen als eben die kleine Schwester ihres Kumpels. Selbst, wenn man sich später zum „Hottest Girl in Town“ entwickeln sollte. Sie kennen einen mit 12 – und das sitzt offensichtlich ebenso tief.

3. Kleine, gemeine Geheimnisse miteinander teilen

Weihnachten 1994. Ich sehe es noch vor mir, als ob es gestern gewesen wäre: Meine gespielte Freude über die Chris Rea Konzert-Karte (meine Mutter dachte, das wäre genau mein Geschmack!) und deine schlecht verhohlene Enttäuschung, als du erfahren hast, dass du als meine Begleitung vorgesehen bist. Umso lustiger wurde der Abend: Nachdem wir unsere Karten meistbietend vor der Konzerthalle verscherbelt hatten, haben wir den Erlös genüsslich bei einem teuren Essen verbraten. Danach haben wir uns dann gemütlich auf der Couch den Konzert-Mitschnitt auf 3sat angeschaut – falls Mama fragt, wie es war!

4. Das Zimmer des grossen Bruders durchstöbern

Es tut mir leid, dass du es so erfahren musst, abe: auch ich habe es getan! Es war aber auch einfach zu aufregend, was man in so einem Jugendzimmer alles entdecken konnte, vor allem bei einem Vertreter des anderen Geschlechts. Die ersten Bravos, die ich mir heimlich unter der Decke durchgelesen habe, Schnappschüsse deiner coolen Freunde vom letzten Fussballturnier oder der Klassenfahrt und dann später die ersten Liebesbriefe, die mir in meiner elfjährigen vorpubertären Welt wie hocherotische Literatur vorkamen. Ich wusste natürlich, dass das verboten war- und habe sie trotzdem verschlungen. Du hättest Sie aber auch wirklich mal geschickter verstecken können!

5. Von den coolen Kids erkannt werden

Das muss jetzt mal gesagt werden: Du warst schon ein cooler Typ – und ich die kleine Schwester! Während es manche Leute stört, einzig als “Schwester/Frau von jemand anderem” wahrgenommen zu werden, hat es mich immer mächtig stolz gemacht, deine kleine Schwester zu sein. „Ah, du bist also die kleine Schwester vom Teamkapitän der Fussball B-Jugend!” „Klar!” oder „Wie war dein Nachname? Ach, dann bist du ja die Schwester vom Chefredakteur der Schülerzeitung?“„Aber hallo!” So blöd das klingt, aber ich hatte immer das Gefühl, dass die Coolness automatisch auf mich abfärbte und mir eine gewisse „Street Credibility“ verlieh.

6. Früher wissen, was HIP ist

Wenn man grosse Geschwister hat, weiss man einfach immer schon früher, was IN ist, als die anderen Kinder im gleichen Alter. Während meine Freunde sich noch auf dem Pausenhof über die „Hitparade im ZDF“ unterhielten, wusste ich schon längst, was wirklich hip war. „Was, du kennst nicht Frankie goes to Hollywood? Also ich mag total gerne Duran Duran!“ sprach dann die neunjährige Drittklässlerin hochnäsig und zog von dannen. Ganz zu schweigen von DER Must-Have-Uniform der Achtziger/Neunziger (Levis 501 und Chucks), die ich natürlich zum Leidwesen unserer Eltern unbedingt schon haben musste, als die Mädchen in meiner Klasse noch in bedruckten Pferdekopf-Sweatshirts herumliefen.

7. Der grosse Bruder ist immer da, wenn man ihn braucht.

Ob mit fünf oder fünfundzwanzig:Wenn ich irgendwie in der Patsche gesteckt habe, konnte ich mich auf meinen grossen Bruder immer verlassen. Auf dem Spielplatz hast du mich vor den grossen Kids beschützt, mit 17 habe ich auf deinem Schoss sitzend meine erste grosse Liebe beweint. Und zehn Jahre später standest du mit dem Sprinter bereit, als ich die gemeinsame Wohnung mit der damals aktuellen grossen Liebe geräumt habe. Bis hier nach Berlin hast du mich vor acht Jahren mit meinem kärglichen Hab und Gut gebracht. Hier bleibe ich jetzt erst mal. Aber wenn ich irgendwann weg möchte, weiss ich jetzt schon, wer den Umzugswagen fährt!

 

Danke für alles!

In Liebe, deine kleine Schwester

 

P.S. Lieber grosser Bruder, jetzt ist es zwei Wochen her, dass unser Vater unvermittelt gestorben ist. Wie glücklich ich mich schätzen kann, dich als grossen Bruder an meiner Seite zu haben, mit dir gemeinsam durch diese traurige, aber auch so wichtige Zeit zu gehen. Das wird mir gerade wieder einmal mehr bewusst. Und ausserdem: Mit wem sonst könnte man beim Durchblättern alter Fotoalben trotz aller Traurigkeit vor Lachen fast unterm Tisch liegen? Na eben: Alles wird gut!

 



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