Erziehen auf Italienisch

 

Ich komme grade aus Italien wieder. Wir waren in den Abruzzen, einer ruhigen, ländlichen Region mit wunderschönen Bergen, gesäumt von weissen Stränden. Einer Gegend, in der die Zeit still zu stehen scheint, Geckos über ins Sonnenlicht getauchte Wände krabbeln, und das Lächeln der Menschen so breit ist wie die Pizzen. Und ein Ort, an dem, wenig überraschend, die Erziehung der Kinder „The Italian Way“ gelebt wird.

 

La Famiglia

Man hört viel über italienische Familien und stellt sie ich riesig, laut, lebhaft, bunt, liebevoll und ein wenig verrückt vor. Als eine himmlische, warme, einladende, lebensbejahende Gemeinschaft, die sich der Dolce Vita und Mamas selbst gemachter Pasta hingibt.

Und vieles davon stimmt auch.

Aber verbringen Sie mal ein bisschen Zeit damit, italienische Familien in Ihrem Alltag zu beobachten und sie werden ziemlich schnell feststellen, dass die Realität des italienischen Familienlebens zwei Gesichter hat. Auf der einen Seite dieser grosse, laute, schützende, warme Schoss der Familie und die Liebe, von der man immer so viel hört. Auf der andern Seite aber auch… Respekt. Sitten und Bräuche. Verhalten. Regeln. Und eine klare und klar akzeptierte Familienhierarchie.

Keine Helikopter Eltern

Wir waren ausserhalb der italienischen Ferienzeit dort, und jeden Tag ab ungefähr drei Uhr füllten sich die Strassen, die Piazza, der Strand und die Eisdielen langsam mit dem Klang von Gelächter, Kichern und schrillen Schreien. Die Spielplätze wurden von wild schnatternden Kindergruppen bevölkert. Bemerkenswert daran war, dass nur wenig Erwachsene dabei waren. Und diejenigen, die da waren, sassen getrennt von den Kindergruppen. Aufmerksam zwar, aber nicht permanent über ihnen kreisend. Anwesend, aber nicht überbehütend.

Die Kinder selbst spielten in einer Art und Weise miteinander, wie ich Sie hier bei uns lange nicht mehr gesehen hatte. Sie hatten ganz einfaches Spielzeug – wenn überhaupt. Einen Ball. Einige Murmeln. Ein Papierflugzeug oder ein winziges Plastikfigürchen aus einem Überraschungs-Ei. Sie wuselten durcheinander, reichten sich die Spielzeuge hin und her, natürlich schnappte sich auch jemand mal etwas oder es wurde ein wenig gezankt, aber alles in allem wurden die Dinge miteinander geteilt – und sich nicht gegenseitig geneidet.

Auch wurde mitunter wild diskutiert, hingebungsvoll unterstrichen von sehr viel kindlicher Gestik. Und dann ging es auch schon wieder friedlich weiter. Keiner der Erwachsenen kam auf die Idee, sich einzumischen oder irgendwie Aufhebens darum zu machen.

„Si, mamma!“

Und falls die Mutter doch einen Grund hatte, sie zu sich zu rufen oder sie zu bitten, irgendetwas zu tun…

DANN: Taten sie es einfach! Ohne Diskussion. “Si, mamma!”
Dieser Respekt und Gehorsam Erwachsenen gegenüber erstaunt hierzulande viele Eltern, deren Kinder sie entweder ignorieren, sich grundsätzlich verweigern, fluchen oder sogar vor ihren Kumpels über sie herziehen. Die meisten von uns haben weniger Autorität über unsere Kinder als ein toter Goldfisch.

Zufällig bin ich vor kurzem auch hier vor Ort Zeuge des italienischen Erziehungsstils geworden, als ich eine alte Bekannte traf, die einen Pub betreibt. Ihr 18-jähriger Sohn arbeitet dort mit. An einem überfüllten Freitagabend, mit einer 4 Meter langen Schlange vor der Theke, rief sie ihn zu uns herüber, damit er mich anständig begrüsse. Dieser junge Mann, knapp 2 Meter gross und kräftig, an der Schwelle zum Erwachsensein, schüttelte meine Hand, schaute mir offen und respektvoll und vor allem direkt in die Augen und sagte „Hallo“. Wir quatschten ein paar Minuten über die Schule, Fussball und seine Uni-Pläne und, obgleich er natürlich ein wenig unsicher war, mit jemandem zu reden, den er kaum kannte, war er total bei sich und dabei sehr einnehmend und höflich.

Irgendwann sagte seine Mutter: “Gut, junger Mann, das reicht. Und jetzt wieder an die Arbeit!” Er küsste sie auf die Wange, umarmte sie und ging zurück an die Arbeit. Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, diese Interaktion zwischen Eltern und Kindern bei irgendeinem der britischen Familien, die ich kenne, zu beobachten. Ich war schwer beeindruckt.

Liebe und Disziplin

Aber so ist das mit der italienischen Erziehung. Und der Erziehung in vielen anderen Ländern – ausserhalb von England und den USA. Ein ganz altmodische Mischung aus Liebe, kombiniert mit Disziplin, die wir hier schon gar nicht mehr kennen.

Um es kurz zu machen: In Italien sind Kinder einfach KINDER. Sie werden verehrt. Angebetet. Geliebt und ernährt. Sie dürfen spielen, Abenteuer erleben, lange wach bleiben, Eis essen und werden dabei nicht permanent von Ihren Eltern helikoptermässig umkreist.

Aber es gibt Regeln. Es gibt verschiedene Ebenen von Respekt, und es gibt Grenzen. Sie sind elementar für die Kindererziehung und haben nichts mit unnötiger Härte oder Gefühllosigkeit zu tun. Sie geben Kindern eine Struktur und eine gewisse Sicherheit. Sie lernen dabei viel über Konsequenzen, Verantwortung, Ehrlichkeit und Vertrauen.

Ich habe darüber vor sechs Jahren ein ganzes Buch geschrieben. Und ich stehe nach wie vor hinter jedem Wort. Italienische Kinder werden nicht wie Erwachsene behandelt und keiner erwartet von Ihnen, sich wie einer zu verhalten – wie es in unsere Kultur leider viel zu häufig passiert.

Sie sind NICHT unsere besten Freunde, unsere Vertrauten oder Unterstützer. Sie werden nicht kontrolliert, überbehütet oder unter Druck gesetzt. Sie bekommen das, was so vielen Kindern in unserer Kultur vorenthalten wird: eine richtige KINDHEIT.
Sie sind Bambini. Kinder. Sie sind frei, aber beschützt. Und sie sind glücklich dabei!



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