Unser Weg zur Einschulung

Bevor ich Mutter wurde, dachte ich, ich hätte schon viel gesehen und erlebt. Aber so richtig lernte ich das Leben und seine Herausforderungen erst mit der Geburt meiner Tochter Sonea kennen. Auf uns wartete nicht die all-inclusive Pauschalreise, sondern ein Abenteuerurlaub, ohne Reise-Guide und ohne Vollverpflegung. Sonea hat das Down-Syndrom. Das erfuhren wir einen Tag nach ihrer Geburt, ziemlich schonungslos und nüchtern vom Chefarzt um die Ohren geknallt.

Sonea und ihr Extra-Chromosömchen

Wir hatten grosses Glück, denn ausser dem Extra-Chromosömchen hatte Sonea keine Überraschungen für uns im Gepäck. Dem Schock und der Traurigkeit nach dieser Diagnose folgten unendlich viel Freude und Glück, auch wenn wir das anfangs sicherlich nicht für möglich gehalten hätten.
Zwei Jahre später fanden wir nach langer Suche schliesslich eine Kita für unser betreuungsintensives Kind. Ein Ort, an dem sie einfach sie selbst sein durfte und trotz ihrer Sonderausstattung auf offene, liebevolle Arme traf. Drei wirklich sehr schöne Jahre folgten und nun ist Sonea fast schon ein Schulkind.

Inklusion: Theorie versus Realität

Als Sonea geboren wurde, trat die UN-Behindertenrechtskonvention in Kraft, in der die Inklusion geregelt ist. Die gemeinsame Teilhabe. So wirklich mich mit der Inklusion zu befassen, begann ich aber erst vor ca. anderthalb Jahren. Also ab dem Zeitraum, als ich mich auch intensiver mit der Schulform für Sonea auseinander setzte. Ich lernte, was Inklusion in der Theorie bedeutet und erfuhr von dem kläglichen Abklatsch, der davon in der Realität übrig bleibt. Ich stellte fest, dass die Grundhaltung zur Inklusion nicht gerade die rosigste ist und kann die ablehnende Haltung auch ein Stück weit nachempfinden.
Es mangelt an ausgebildetem Fachpersonal und an finanziellen Mitteln, aber vor allem fehlt die Bereitschaft. Aber steht am Anfang von allem nicht der Wille? Was nützen mir Geld und ausreichende Fachkräfte, wenn der Wille fehlt?

Die Schul-Odyssee beginnt

Für meinen Mann und mich stand fest: Wir wollen Inklusion für unsere Tochter! Und auch wenn ziemlich schnell klar war, dass dies ein sehr unbequemer, langer und harter Weg werden würde, traten wir ihn entschieden an.
Schnell zogen wir uns die ersten Blasen und Druckstellen an den Füssen zu. Eine Schule zu finden, die bereit war unsere Tochter inklusiv zu beschulen, das war gar nicht so einfach. Fast schon unmöglich. Einige Urlaubstage opferten mein Mann und ich, um noch einmal die Schulbank zu drücken und an verschiedenen Schulen zu hospitieren. Aber entweder stellten wir ernüchtert fest, dass die Schule für unsere Tochter nicht in Frage kam (zu grosse Klassen, zu laut, zu unstrukturiert) oder aber man gab uns im Gespräch sehr deutlich zu verstehen, dass man gar nicht bereit sei. „Wir sind noch nicht so weit mit der Inklusion…“ oder aber „Wir werden uns Ihre Tochter ansehen und dann beurteilen, ob eine Förderschule nicht doch besser für sie ist.“ Ein Faustschlag ins Gesicht – aber immerhin ehrlich.

„Wir sind noch nicht so weit mit der Inklusion…“

Die gleiche Meinung vertrat dann die eigentlich sehr nette Ärztin des Gesundheitsamtes, die bei der Schuleingangsuntersuchung im Kindergarten Sonea testete oder sagen wir lieber – testen wollte. Bereits nach den ersten Aufgaben versteckte sich Sonea unter dem Tisch und ich durfte sie dann total aufgelöst und weinend aus ihrer Gruppe abholen, nachdem mir die Ärztin nach ihrem kurzen Eindruck von meiner Tochter die Beschulung auf einer Förderschule nahelegte.

Daran hatte ich erstmal zu knabbern. Was wusste die Frau schon! Sie kennt doch gar nicht mal ansatzweise das Potential meines Kindes. Nein, sie ist sicherlich nicht hochbegabt, aber auch nicht dumm! Und vor allem hat sie diese Prüfsituation mit fünf Erwachsenen (teilweise fremden) Menschen am Tisch unter Druck gesetzt und überfordert.
Ich hospitierte schliesslich an der Förderschule. Das war gut, denn anschliessend hatte ich ein beruhigtes Gefühl und wusste, dass wenn wir unseren Kampf für die Inklusion nicht gewinnen, gibt es noch einen weiteren Weg, der gar nicht so abwegig ist, wie ich immer gedacht habe.

Die „kleine Pubertät“ des Vorschulkindes

Ehrlich gesagt ertappte ich mich im vergangenen Jahr sehr häufig dabei, dass ich daran zweifelte, den richtigen Weg für Sonea gewählt zu haben. Und ob unsere Entscheidung richtig ist, wird sich sowieso erst in den nächsten Wochen und Monaten rausstellen. Extreme Stimmungsschwankungen, teilweise schon so selbständig und fast schon erwachsen und dann wieder der totale Rückfall zum Kleinkind. Manchmal war ich echt fix und fertig und völlig überfordert mit den Launen meiner Tochter. Aber scheinbar gehört das zum Vorschulalter dazu. Eine kleine Pubertät – na da freu ich mich ja jetzt schon auf das, was da kommt. Nicht.

Endlich ein Lichtblick!

Im Herbst letzten Jahres – ich hatte fast schon resigniert und den Traum einer inklusiven Beschulung aufgegeben – rief ich eines Morgens auf dem Weg zur Arbeit bei einer Grundschule an. „Ich würde gerne bei Ihnen hospitieren und schauen, ob Ihre Schule für unsere Tochter geeignet wäre. Unsere Tochter hat das Down-Syndrom. Wenn das nicht für Sie in Frage kommt, sagen Sie mir das bitte gleich, dann spare ich mir einen Urlaubstag!“.
Am Ende der anderen Leitung fragte die Schulleiterin: „Ganz ehrlich? Wir würden uns riesig freuen! Ihr Kind wäre eine Bereicherung für uns alle“. Öhm. Irgendwie konnte ich das nicht ganz glauben und so begab ich mich zusammen mit meinem Mann eine Woche später zu einem weiteren Hospitationstermin an die Schule, an der unser Kind willkommen sein sollte.

Erstaunlicherweise war mein Mann derjenige, der sofort angetan war. Ich brauchte einen Moment, um das alles auf mich wirken zu lassen. Normalerweise ist das umgekehrt. Mir gefiel das Konzept: klassenübergreifender Unterricht von Klasse eins bis vier und klassenspezifischen Fachunterricht in kleinen Gruppen von fünf bis sechs Kindern. Das könnte funktionieren. Aber nur mit einer Schulbegleitung. Trotz meinem Traum von Inklusion blieb ich realistisch. Ohne eine Einzelbetreuung könnte es schwierig werden.

Eine Schulbegleitung muss her

Also begann ich mich zu informieren, wie man eine Schulbegleitung beantragt und vor allem wo. Das war mindestens genau so nervenaufreibend und -zerrend wie die ganze Schulsuche an sich. Keiner konnte uns so richtig sagen, wie man den Antrag stellt. Zwischenzeitlich war man sich dann noch nicht einmal sicher, ob das Jugendamt oder das Sozialamt für die Antragstellung zuständig sei und die Zeit lief uns davon. Ständig hingen wir in der Luft.

Wir begannen vor einem Jahr, eine ausführliche Untersuchungsreihe in unserem Sozialpädiatrischen Zentrum erstellen zu lassen. Am Ende hatten wir ein ausführliches Gutachten über die motorische und logopädische Entwicklung unserer Tochter sowie einen Intelligenztest. Alles Momentaufnahmen, nicht gerade das Optimum, aber genau das, was wir brauchten, um für alle Eventualitäten gewappnet zu sein.
Die Schuluntersuchung in der Schule, die Schulanmeldung und die Eröffnung des AO-SF Verfahrens, in dem der sonderpädagogische Förderbedarf ermittelt wurde, folgten. Sämtliche Testsituationen, die Sonea durchlaufen und grösstenteils hochmotiviert und toll gemeistert hat. Sie wollte in die Schule, freute sich schon so lange darauf. Es waren einige Termine, die wir wahrnehmen mussten, gefolgt von viel Schriftverkehr und noch mehr Telefonaten. Kein leichter Weg, aber einer, der eine Chance verdient hat.

Auf und Ab der Vorfreude


Auch Sonea bereitete sich auf die Schule vor – die Vorschul-AG, die Wahl des Schulranzens, ein bisschen Mitspracherecht bei der Schultüte und dann der Schnuppertag in der Schule. Sie war aufgeregt, ich war aufgeregt und dann gefiel es ihr ganz offensichtlich, aber irgendwie auch nicht. Sie war sehr neugierig und erkundete alles. Die Lehrerin war begeistert, dass Sonea so aufgeschlossen ist und lobte, dass sie sehr gut gefördert sei. Aber Sonea war es zu laut und die vielen fremden Kinder machten ihr Angst. Und dann fand sie Schule auch schon doof, bevor sie überhaupt für sie angefangen hat. In den letzten Wochen vermieden wir also den Fokus auf das Thema und die Vorfreude kam wieder ganz von alleine. Mittlerweile fragt sie mich jeden Morgen, ob heute die Schule beginnt.

Ein mulmiges Gefühl bleibt…

So richtig aufatmen und der beginnenden Schulzeit zuversichtlich entgegenzublicken konnte ich aber erst, nachdem wir letzte Woche dann endlich den Bescheid über die Bewilligung unserer Schulbegleitung erhalten haben. Während hier für viele erst die fast hoffnungslose Suche nach einer Schulbegleitung beginnt und man dann nur beten kann, dass es auch menschlich passt, hatten wir grosses Glück.

Neben diversen Trägern, die wir kontaktierten und eine Anfrage für eine Schulbegleitung stellten, machten wir uns privat auf die Suche. Nun wird die Mutter einer Kita-Freundin von Sonea ihre Schulbegleiterin. Wir freuen uns wirklich sehr, denn wir wissen, dass Sonea sie unglaublich gerne mag und umgekehrt hat unsere Schulbegleiterin auch ein grosses Herz für Sonea.

Nächste Woche geht es los. Und obwohl wir gut vorbereitet sind, bleibt immer noch ein mulmiges Gefühl und die Ungewissheit – haben wir den richtigen Weg für unser Kind gewählt?

 



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