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Das Ende der Handschrift?

Was Handschreiben für Kinder bedeuten kann

Heutzutage ist der Griff zum Stift im Alltag kaum noch erforderlich – vieles funktioniert digital. Dabei macht es durchaus Sinn, die eigene Handschrift zu Papier bringen zu können.

Für die meisten ist die Fähigkeit, von Hand schreiben zu können, von Kindesbeinen an ein überaus wichtiger Bestandteil des Lebens – Schule, Ausbildung und Berufseinstieg sind ohne kaum denkbar. Heute gibt es für das Handschreiben nur mehr einige wenige Nischen, in denen es noch mit einiger Berechtigung angewendet wird.

Welchen Einfluss hat die Digitalisierung?

Zu einem nicht unerheblichen Teil ist diese Entwicklung dem technischen Fortschritt geschuldet. Die Möglichkeiten der Online-Kommunikation, haben zwar zu einem sehr viel umfangreicheren (schriftlichem) Austausch geführt. Allerdings ersetzen all die Mails und Nachrichten, die täglich über die sozialen Netzwerke, Chat-Dienste oder per SMS ausgetauscht werden, viele Formen der handschriftlichen Korrespondenz.

Grafik 1 - Handschrift im Alltag

Das ist ungleich schneller und zudem bequemer, sorgt aber eben auch dafür, dass Handschrift und Schreibkompetenz im Allgemeinen leiden. Da es außerhalb der Schule kaum noch Gelegenheiten zum Schreiben per Hand gibt, ist es nicht verwunderlich, dass die Handschrift als fester Bestandteil des Lehrplans hinterfragt wird. Statt Buchstaben richtig zu Papier bringen zu können, sollten Kinder besser rechtzeitig flüssiges Tippen auf der Tastatur oder dem Touchscreen erlernen.

Allerdings wird es ganz ohne Schreibschrift dann doch nicht gehen, nicht einmal beim vermeintlichen Vorreiter Finnland. Eine Abschaffung der Handschrift, wie sie fälschlicherweise in den Medien kommuniziert wurde, war dort niemals vorgesehen – anders verhält es sich mit Vereinfachungen durch den Verzicht auf die verbundene Schreibschrift. Die soll durch eine Basis-Druckschrift ersetzt werden.

Für die Schulkinder ist das in doppelter Hinsicht von Vorteil – sie werden schon zeitig auf die Anforderungen eines zunehmend technisch geprägten Arbeitsmarktes vorbereitet und profitieren gleichzeitig noch von den positiven Auswirkungen des Handschreibens auf Motorik und Kognition.

Warum ist die Handschrift immer noch wichtig?

Die mutmassliche Beschränkung auf die Basisschrift muss in dieser Hinsicht gar kein Nachteil sein. Untersuchungen der Pädagogischen Hochschule Zentralschweiz in Luzern haben vielmehr ergeben, dass diese Form den schreibmotorischen Leistungen im Primarschulalter sogar zuträglich ist: Das Schriftbild wird insgesamt leserlicher, das Schreiben selbst schneller. In der Konsequenz konnte eine deutlich grössere Motivation zu schreiben festgestellt werden, wenngleich sich die Kinder in dieser Hinsicht eher an ihrem Schriftprodukt als am Schreibprozess selbst orientieren.

Genau genommen handelt es sich ohnehin um zwei Prozesse, die allerdings ohne weiteres nicht voneinander zu trennen sind. Auf einer gewissermassen rein motorischen Ebene geht es um die Fähigkeit, mittels Werkzeug und Material (also Stift und Papier) überhaupt Schriftzeichen erstellen zu können; darüber hinaus umfasst das Schreiben die kommunikative Ebene, also das Verfassen von Texten.

Die Entwicklung motorischer Fähigkeiten

Nichtsdestotrotz ist die motorische Schulung natürlich die Grundvoraussetzung für die schriftliche Kommunikation. Gleichzeitig ist die Handschrift aber auch nur ein Teilbereich der grafomotorischen Entwicklung – die wiederum ebenfalls eine ganze Reihe von Teilaspekten umfasst: Koordination, die dosierte Bewegung von Armen, Händen, Handgelenken und Fingern, die Fähigkeit zur rhythmischen Bewegung, die Unabhängigkeit der Hände, Zielgenauigkeit und einiges mehr.

Daraus ergeben sich für die Handschrift noch konkretere Fertigkeiten wie die Handhaltung, die Bewegung von Fingern und Daumen, die notwendig ist für das Erstellen von Linien, Kurven, kantigen Übergängen und Schleifen. Alle Bewegungsabläufe, die es für das Handschreiben braucht, müssen durch Üben erlernt und verfeinert werden. Das fängt bei körpernahen Bewegungen im Bereich von Schulter und Arm an und führt im letzten Schritt zur körperfernen Motorik, die Hände und Finger betrifft.

Wichtiger als die möglichst präzise Schriftform ist dabei im Übrigen tatsächlich die Schreibmotorik im Allgemeinen. Sie ist letztlich die Grundlage für ein ‚sauberes‘ Schriftbild und sollte deswegen ausgiebig geschult werden.

Die Verbesserung der kognitiven Fähigkeiten

Handschreiben fördert aber nicht allein die Motorik, sie hat auch Auswirkungen auf die kognitiven Fähigkeiten. Koordination und Kognition gehen gewissermassen Hand in Hand, wenn es um Leistungsverbesserungen geht. Das betrifft unter anderem die Gedächtnisleistung und zugleich auch die Fähigkeit, Texten und Themen besser, tiefer und in ihrer ganzen Komplexität zu erfassen.

Karin Krieg vom Schreibmotorik Institut Heroldsberg unterstreicht noch einmal die Bedeutung der Handschrift für den allgemeinen Lerneffekt und damit für die schulische Entwicklung als solche: Zum einen konnten in Studien schon beim Lernen des Schreibens erhöhte Gehirnaktivitäten nachgewiesen werden (in Bereichen, die später auch bei Erwachsenen für das Lesen und Schreiben zuständig sind), zum anderen hilft das Handschreiben – sobald es automatisiert wurde – bei der kognitiven Verarbeitung von gehörten Informationen. Es kann also mit einiger Bestimmtheit davon gesprochen werden, dass Schreiben schlau macht.

Die Handschrift als Problem

So förderlich das Handschreiben für die Kindesentwicklung auch sein mag, es gibt durchaus auch problematische Bereiche, angefangen bei den zu berücksichtigenden Lernphasen bis hin zu Störungen wie Legasthenie und Dysgraphie.

Rücksichtnahme auf Lernphasen: Vereinfachungen durch die Basisschrift

Die Basisschrift soll aus diesen Gründen als wichtiger Baustein dienen und die nötigen Vereinfachungen bringen. Sie soll einerseits die frühe Aneignung einer automatisierten Handschrift ermöglichen und andererseits den individuellen Unterschieden in der Entwicklung von Feinmotorik und Schriftsprache Rechnung tragen. Die Grundlagen für eine derartige Vereinfachung hat Sibylle Hurschler Lichtsteiner, Dozentin für Psycho- und Grafomotorik, in einem Vortrag über die Schulausgangsschriften aus pädagogischer Sicht dargelegt:

  • Der Schwerpunkt beim Verständnis des Schriftspracherwerbs hat sich von der technisch einwandfreien Reproduktion von Sprache hin zur adäquaten Verwendung der Handschrift als Stilmittel Wichtiger sind daher Anpassungsmöglichkeiten von Darstellung und Leserlichkeit sowie eine gewisse Geläufigkeit beim Schreiben.
  • Es gilt im Unterricht die Heterogenität der Lernvoraussetzungen und Lernleistungen der Kinder zu berücksichtigen. Die Basisschrift könnte vor diesem Hintergrund – Kinder deren Händigkeit noch nicht gefestigt ist, Kinder mit Fähigkeiten in verschiedenen Sprach- und Schriftsystemen etc. – tatsächlich eine Grundlage für alle sein. Die Entwicklung der individuellen Handschrift würde dann auf unterschiedlichem Level vollzogen, wobei die Gewichtung auf Geläufigkeit und Leserlichkeit liegen und eben nicht um das fehlerfreie Nachahmen der Vorgaben. Das erfordert allerdings in jedem Fall eine verstärkte Unterstützung von Seiten des pädagogischen Personals.
  • Im Zuge der Entwicklung vom kontrollierten hin zum automatisierten Schreiben durchlaufen die Kinder verschiedene Lernphasen: (1) das Erfassen der Grundkoordination, (2) das Training der feinmotorischen Koordination und schliesslich (3) die Phase der Automation, in der das Schreiben ohne bewusste Kontrolle bewerkstelligt werden kann. Da diese Phasen mehrmals durchlaufen werden, müssen die Übungsformen entsprechend den jeweiligen Herausforderungen angepasst werden.

 

Die Luzerner Basisschrift wurde vor diesem Hintergrund, ausgehend von wissenschaftlichen Erkenntnissen der Motorikforschung, entwickelt: Sie soll den Übergang von den bereits bekannten lockeren Bewegungsformen der Vorschulzeit zum Buchstabenschreiben erleichtern. Dabei helfen die Vereinfachungen von Formen und Proportionen. Dadurch fallen allzu viele visuelle Vorgaben weg, was sich auf die Lernfortschritte nur positiv auswirken kann, genauso wie auf das Entwickeln einer persönlichen Handschrift.

Diagnose: Dysgraphie

Die Motorik ist aber keinesfalls der einzige Faktor, der Einfluss auf das Erlernen des Handschreibens hat. Neben körperlichen Beeinträchtigungen oder dem absichtlichen Schlecht-Schreiben, gibt es noch eine Reihe anderer Problemfelder. Dysgraphie oder Agraphie, also die Unfähigkeit Wörter und Texte zu schreiben, obwohl die motorischen und intellektuellen Voraussetzungen gegeben sind, können dabei verschiedene Ursachen haben.

  • Ein Grund liegt womöglich in einer unzureichenden oder eventuell sogar gänzlich vernachlässigten Unterweisung.
  • Besteht daneben noch ein gewisser Hang zu mentaler Desorientierung – also grob gesagt geistiger Abwesenheit – kann das die Unterweisung sogar noch weiter einschränken.
  • Als problematisch, vor allem wenn es vom Lehrpersonal nicht erkannt wird, kann sich auch das Überlagern von mentalen Bildern erweisen. In einem solchen Fall helfen die sonst angemessenen, von den Lehrern vorgegebenen Vorlagen nicht, insbesondere wenn sie nicht identisch sind. Das Übereinanderlegen der Modelle im Kopf führt dann selbst bei minimalen Abweichungen zu erheblichen Problemen, der Vorgabe gerecht zu werden.
  • Eine letzte Ursache kann die sogenannte Dyspraxie sein, die sich womöglich auf ein neurologisches Defizit zurückführen lässt und sich unter anderem in einer gewissen Unbeholfenheit der Bewegungsabläufe äussert.

Dysgraphie kann in unterschiedlicher Schwere vorliegen. Bei der Tiefendysgraphie als häufigste Form bezieht sich die Schreibstörung hauptsächlich auf Funktionswörter und unbekannte Wörter (unter anderem Fremdwörter). Durch die sogenannte Oberflächendysgraphie können die Betroffenen nicht auf ihr „Ganzwortwissen“ zurückgreifen, was zum einen eine langsame Verarbeitung und zum anderen Fehler bei Wörtern, deren Aussprache nicht ihrem Schriftbild entspricht, zu Folge hat. Die Direkte Dysgraphie tritt hingegen mehrheitlich bei Alzheimer-Patienten auf, denen zusätzlich zur Schreibstörung auch noch die Bedeutung des Geschriebenen fehlt.

Diagnose: Legasthenie

Das Problem bei der Lese-Rechtsschreibschwäche besteht weniger in der motorischen Unfähigkeit als vielmehr in der, wie die Bezeichnung schon sagt, Schwierigkeit, die Fähigkeit zu einem flüssigen Wortlesen und –schreiben zu entwickeln. Dabei spielen eine ganze Reihe von Störungen der visuellen und auditiven Wahrnehmung eine Rolle, allen voran die Problematik der Unterscheidung von einzelnen Sprachreizen und Lauten – dadurch werden die korrekten Zuordnungen von Lauten zu Buchstaben (und umgekehrt) beeinträchtigt.

Hintergrund ist eine geringere Aktivierung der Bereiche im Gehirn, die für das Wortelesen und die Sprachunterscheidung zuständig sind. Hinzu kommen Schwächen in der Wahrnehmung, wenn es um sich schnell bewegende, nicht-sprachliche Reize geht. Während sich die Legasthenie beim Lesen häufig dadurch äussert, dass es den Kindern Mühe bereitet, einzelne Laute miteinander zu verbinden, besteht das Problem beim Schreiben im Auseinanderhalten der einzelnen Buchstaben. Die Schwierigkeiten bestehen weiterhin darin, ganz ähnlich der Oberflächendysgraphie, einem gesprochenen Wort die richtigen Buchstaben zuzuordnen. Beim Schreiben fehlen dann des Öfteren Buchstaben, was selbst beim Abschreiben von der Tafel vorkommen kann.

Behandelt werden im Übrigen beide Formen der Schreibstörung mit einer gewissen Förderung des phonologischen Bewusstseins im Rahmen einer logopädischen Therapie. Als kontraproduktiv kann sich hingegen vermehrtes Üben mit dem betroffenen Kind erweisen. Damit wird zum einen das Problem nicht behoben, zum anderen kann der damit verbundene Druck psychische Folgen haben – besonders dann, wenn die erhofften Fortschritte ausbleiben.

Die Kinder leiden dann nicht nur unter dem Frust, sondern haben unter Umständen langfristig mit Ängsten und schulischem Stress oder sogar mangelndem Selbstwertgefühl. Dass Legasthenie nach wie vor oft genug als Zeichen von Dummheit bewertet wird, ist in dieser Hinsicht kaum hilfreich und zudem noch falsch. Wichtigstes therapeutisches Mittel ist daher der familiäre Rückhalt. Daneben haben natürlich auch die Schulen eine grosse Bedeutung, wenn es um die Erkennung und Abklärung eventueller Schreibstörungen geht. Gleichzeitig stehen dem Schulpsychologischen Dienst einige schulische Unterstützungsmassnahmen zur Verfügung, beispielsweise einen differenzierteren Unterricht, der eventuellen Defiziten Rechnung trägt und bis hin zu individuellen Anpassungen gehen kann oder einen Nachteilsausgleich in Prüfungen. In erster Linie sollte es aber immer darum geben, den Kindern den Rücken zu stärken, damit sie nicht gänzlich die Lust am Schreiben verlieren.

Die eigene Handschrift ist unverwechselbar

Ja, die Handschrift hilft bei der Entwicklung der motorischen Fähigkeiten, sie stärkt auch die kognitiven Fähigkeiten und ist somit bestens dazu angetan, den (schulischen) Entwicklungsprozess von Kindern zu fördern. Allerdings ist der Wert der eigenen Handschrift nicht allein in geschmeidigeren Bewegungen oder besseren Schulnoten zu bemessen.

Nein, es geht eben auch ganz konkret um die Kreativität, die durch die Linien und Schnörkel sichtbar gemacht werden können. Denn die Handschrift ist darüber hinaus ein ganz unverwechselbares, individuelles und überaus vielschichtiges Ausdrucksmittel. Das macht die eigene Handschrift, abgesehen von allen motorischen und kognitiven Vorteilen, für jeden einzelnen einfach so wertvoll und erhaltenswert.

 



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